Preisträger

Unterricht innovativ
2023
3. Preis

„Ihr seid nicht vergessen“

Dr. Barbara Haas

Foto-Credit: Heraeus Bildungsstiftung

Projektbeschreibung

79 Jahre nach dem Ende des Holocaust verstummen zunehmend die Stimmen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die aus erster Hand über den Völkermord der Nationalsozialisten an den Jüdinnen und Juden im „Dritten Reich“ berichten können. Neue Wege müssen gefunden und beschritten werden, um junge Menschen im Jetzt und in der Zukunft „gegen das Vergessen“ zu sensibilisieren.

Einen Beitrag dazu leistete Dr. Barbara Haas mit ihren Schülerinnen und Schülern (SuS) am Gymnasium Feuchtwangen: Mit dem Unterrichtsprojekt „Ihr seid nicht vergessen“ erinnerten sie an sechzig Jüdinnen und Juden aus Schopfloch, die ab 1939 von den Nationalsozialisten systematisch deportiert und ermordet wurden. Dabei realisierten sie in eineinhalb Jahren auf kreative Art und Weise interdisziplinär in Kooperation mit außerschulischen Partnern ein mehrstufiges Projekt, das darin gipfelte, dass den Holocaust-Opfern aus Schopfloch eine ihnen bis dahin verwehrte Gedenkstätte gewidmet wurde. In ihrer umfangreichen Auseinandersetzung mit den Themen Antisemitismus, Opfergedenken und Demokratie-Erhalt entstanden zahlreiche wertvolle erinnerungskulturelle Artefakte, die sich der individuellen Lebensläufe, Geschichten und Schicksalen der Opfer annehmen und das einschneidende Ende ihrer jüdischen Geschichte, ihrer Geheimsprache „Lachoudisch“, ihrer Religion und ihrer Kultur in der Gemeinde Schopfloch dokumentieren.

Mit hohem zivilem Engagement und reichlich kreativer Interventionslust traten sie dabei proaktiv für eine „Kultur des Hinschauens“ und „für ein geschichtliches Erbe“ ein, setzten bedeutende Impulse für die Erinnerungsarbeit in der Region, aber auch für gesamtgesellschaftliche Reflexionsprozesse.

In mehreren Etappen realisierten sie dabei eine Reihe von Ergebnissen und Produkten, die im Folgenden aufgelistet werden.

  1. Ein Lernvideo zum Thema Antisemitismus: Auf der Basis eigener Recherchen und Auseinandersetzungen mit der Thematik entstand ein 17-minütiges, fünfteiliges Lernvideo, das sich der 3.800-jährigen Geschichte und den vergangenen und gegenwärtigen Erscheinungsformen von Antisemitismus annimmt. Die SuS setzten hierbei die vorab recherchierten Inhalte, ein Skript, Tonaufnahmen, den Schnitt und die Melodiefindung/-komposition in Eigenarbeit um.
  2. Der Instagram-Account „verwehrte_steine“: Gemeinsam mit der Lernvideo-AG wurden insgesamt 36 Feed- sowie 5 Story-Beiträge erstellt. Aufgenommen auf dem jüdischen Friedhof an den Grabsteinen der Vorfahren, referierten die SuS über Schopflocher Holocaust-Opfer, die Umstände ihrer Ermordung durch das NS-Regime und die ihnen dadurch verwehrten Grabsteine. Zudem wurden Interviews mit dem ehemaligen und dem aktuellen Bürgermeister der Gemeinde geführt, bei denen sich die SuS über die Geheimsprache „Lachoudisch“ sowie die aktuelle Erinnerungsarbeit des Ortes informierten. Dazu wurden die Exkursionen zur Ausstellung „Jüdisches Leben in Feuchtwangen“ sowie zu den Wohnhäusern der ehemaligen „Feuchtwanger Juden“ dokumentiert. Begleitend wurden die bereits erstellten Lernvideos veröffentlicht.
  3. Eine „Gedenkstein-Petition“: Der Aussage des aktuellen Bürgermeisters Czech folgend, dass ein Gedenkstein für die ehemaligen Schopflocher Jüdinnen und Juden längst überfällig sei, starteten die SuS mit „Ihr seid nicht vergessen!“ eine Petition. Dabei trafen sie sich erneut mit dem Schopflocher Bürgermeister und präsentierten ihm und den Marktgemeinderäten im Schopflocher Rathaus ihre Vorstellung eines würdigen Erinnerungsortes, der einen Gedenkstein sowie eine Gedenktafel vor dem jüdischen Friedhof umfassen sollte.
    Präsentation und Start der Petition „Ihr seid nicht vergessen!“
    Präsentation und Start der Petition „Ihr seid nicht vergessen!“
  4. Die Publikation „Verwehrte Grabsteine. Für ein würdiges Gedenken an die jüdischen Holocaustopfer von Schopfloch“: Nachdem ihr Instagram-Projekt im Zuge des Internet-denkt@g-Wettbewerbs 2022/23 von der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet worden war, entschieden sich die SuS, das Preisgeld für eine Buchveröffentlichung zu nutzen, um „auch über den Weg des geschriebenen Wortes“ dem Vergessen entgegenzuwirken. Hierzu wurden die bestehenden Instagram-Beiträge mit weiteren Daten, Fakten und Quellen zu den Schopflocher Holocaustopfern angereichert. Der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. und ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags, Prof. Dr. Norbert Lammert, verfasste das Geleitwort.
    Auszeichnung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung im Zuge des Internet-denkt@g-Wettbewerbs 2022/23
    Auszeichnung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung im Zuge des Internet-denkt@g-Wettbewerbs 2022/23
  5. Ein Online-Interview mit der Holocaust-Überlebenden Sigrid Strauss (geb. Ansbacher). Die Suche nach den Lebens- und Sterbedaten der aus Schopfloch stammenden und in die USA emigrierten Familienangehörigen der Familie Ansbacher führte über USA-Telefonbücher- und Todesanzeigen-Recherchen zu der in New Jersey (USA) lebenden 95-jährige Zeitzeugin Sigrid Strauss, die neben einem Ghetto fünf Konzentrationslager und einen Todesmarsch überlebt hatte. Nach mühsamer Überzeugungsarbeit gab sie den SuS ein überaus wertvolles und erkenntnisreiches Online-Interview (auf Englisch), das in das Buch mit aufgenommen wurde.
    Online-Interview mit der 95-jährigen Holocaust-Überlebenden Sigrid Strauss
    Online-Interview mit der 95-jährigen Holocaust-Überlebenden Sigrid Strauss
  6. Öffentliche Vorträge (Schopfloch/Feuchtwangen/Berlin/München). Der 1. Preis beim „denkt@g-Wettbewerb 2022/23“ der Konrad-Adenauer-Stiftung (darüber berichteten die „Fränkische Landeszeitung“, „BlickLokal“, der Bayerische Philologenverband bpv und das Franken-Fernsehen) führte zur Einladung des Evangelischen Forums Westmittelfranken e. V. Bildung im Dekanat Feuchtwangen im Gemeindehaus. Dort referierten die SuS über „Die Schopflocher Juden im Dritten Reich“. Mit großem Engagement haben sie dafür die Vortragsinhalte erstellt, die jeweiligen Referatsparts verteilt und souverän vor den über 150 Besucherinnen und Besuchern der Veranstaltung vorgetragen. Weitere Vorträge, Buchüberreichungen und Ehrungen in Berlin und München folgten – u.a. empfing Artur Auernhammer, MdB, die SuS im Deutschen Bundestag.
  7. Eine Gedenkfeier zur Einweihung der Gedenktafel und des Gedenksteins – die SuS hatten dabei große Anteile an der Organisation und Mitgestaltung: Sie legten dem Bürgermeister ein Konzept für das gemeinsame Opfergedenken vor, sodass die Gedenkfeier am 25.07.2023 mit den von den SuS eingeholten Videobotschaften von Dr. Charlotte Knobloch und dem Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Dr. Ludwig Spaenle, den Ansprachen der Politiker (Bund und Land), den hebräischen Gebeten des Rabbiners Eliezer Chitrik und den hebräischen Gesängen der SuS sowie der Enthüllung des Gedenksteines und der Gedenktafel in einem würdigen Rahmen vonstattengehen konnte.Gemeinsames Opfergedenken und Einweihung des Mahnmals
    Gemeinsames Opfergedenken und Einweihung des Mahnmals
    Gemeinsames Opfergedenken und Einweihung des Mahnmals (Bilder: Barbara Haas / BR)

Das Besondere

Der innovative Charakter des Unterrichtsprojekts besteht vor allem in der Erprobung neuer Vermittlungsformen und Vermittlungsmethoden des „forschenden Lernens“ im Kontext erinnerungskultureller Aufarbeitung und Reflexion. Über verschiedene interdisziplinäre Zugänge und Vor- und Herangehensweisen gingen die SuS, angeleitet von ihrer Lehrkraft, der übergeordneten Frage nach, was mit den Jüdinnen und Juden aus Schopfloch, aber auch ihrer Geheimsprache „Lachoudisch“ in Nazideutschland geschehen ist, um sie nach langer Zeit der Vergessenheit zu entziehen, ihre Schicksale aus den verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten und sie über ein Mahnmal für die Gegenwartsgesellschaft erfahrbar zu machen. Damit leisteten die Lehrkraft und ihre SuS einen überaus wichtigen Beitrag für die örtliche Erinnerungskultur. Über ihren Appell, das Aktualisieren der Notwendigkeit der Verantwortungsübernahme und das Erinnern an die Opfer des Holocausts schreiben sie sich in das kulturelle Gedächtnis, aber auch in das aktuelle Zeitgeschehen samt gegenwärtiger und künftiger Diskurse ein.

Erfahrungen und Ergebnisse

Die Bedeutsamkeit von „Ihr seid nicht vergessen“ liegt insbesondere darin, dass die SuS über den Projektverlauf authentisch sensibilisiert wurden, sodass sie sich in ihrem Leben – im Jetzt und in der Zukunft – und in ihrem sozialen Umfeld für die Würde eines jeden Individuums persönlich, mutig, engagiert und respektvoll einbringen und einsetzen wollen und werden. Das zeigen SuS-Evaluationen wie diese:

„Wir haben das gemeinsam geschafft; der Gedenkstein mit einer Gedenktafel steht nun vor dem Jüdischen Friedhof in Schopfloch; das Buch, das noch unsere Enkel und Urenkel lesen und indem sie unsere Namen entdecken werden ist fertig; die Gedenkfeier wurde von uns mit großem Engagement organisiert und ist würdig vonstattengegangen; wir hatten damit überall – in der Bevölkerung, bei den Mitschülern, in der Öffentlichkeit (auch bundesweit) – ein positives Feedback; aber was uns viel wichtiger ist: Wir haben GEMEINSAM mit den Bürgermeistern, den Gemeinderäten, den Politikern, der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Israelitischen Kultusgemeinde, dem Antisemitismusbeauftragten, der Steinmetzin, dem Rabbiner im Beisein der Bevölkerung 60 jüdische Mitbewohner aus Schopfloch dem Vergessen entzogen und das ist für uns der allergrößte Gewinn!“

Der Wert des Projekts liegt aber auch darin, dass die SuS anhand der vielen Begegnungen, Briefkorrespondenzen, der Gespräche und Diskussionen mit den Kooperationspartnern (Bürgermeister und Gemeinderäte von Schopfloch, Verein Bet-Olam, Konrad-Adenauer-Stiftung, Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern, Antisemitismus- Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung, Evangelisches Forum Westmittelfranken, Bundestagsabgeordnete, Rabbiner, Steinmetzin, Holocaustüberlebende Zeitzeugin aus den USA und Zeugen der Täterseite) Persönlichkeiten kennenlernten, die Freiheit und Demokratie, Toleranz und Humanität vorleben; die jedoch aber auch verdeutlichten, dass Freiheit und Demokratie, Toleranz und Humanität keine selbstverständlichen Gewissheiten sind, sondern des fortdauernde Engagements jedes Einzelnen bedürfen – und die SuS so in ihre zukünftige Verantwortung entlassen haben.

Aus den Gutachten

„Es ist bemerkenswert, wie intensiv die SuS die Möglichkeit hatten, sich mit der Thematik zu befassen. So tief in ein Thema einzusteigen, bleibt in Schulen leider oft verwehrt. Die Interdisziplinarität und Kooperation mit außerschulischen Lernpartnern scheint in diesem Unterrichtsprojekt beispielhaft gelungen. Die SuS hatten die Chance, verschiedene Kompetenzen zu entwickeln und eigenverantwortlich zu lernen. Es entsteht der Eindruck, dass viele SuS tatsächlich nachhaltig gelernt und reflektiert haben und sich voll und ganz auf das Projekt und seine Teilaspekte eingelassen haben, das ist bemerkenswert.“

„Die Arbeit spiegelt gelebte Demokratie! ‚Hinschauen – nicht wegschauen!‘ wird glaubwürdig, ernsthaft, umfassend und gemeinschaftlich in forschendem Lernen praktiziert. Ein äußerst wertvolles schulisches Projekt wird zur Petition mit erfolgreicher, öffentlichkeitswirksamer Verifizierung und höchster Aktualität.“

Eckdaten

Schule: Gymnasium Feuchtwangen
Bundesland: Bayern
Jahrgangsstufe: Ethik 10 im Schuljahr 2021/22; Ethik Q11 und Ethik 10 im Schuljahr 2022/23; Ethik Q12 und Ethik 11 im Schuljahr 2023/24
Fächer: Ethik, Musik, Lernvideo-AG mit Geschichte und Englisch
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