Seit 1951 treffen sich herausragende Forscherinnen und Forscher einmal jährlich bei der Lindauer Nobelpreisträgertagung. Mit dem Programm „Teaching Spirit“ werden dort Lehrkräfte für ihr herausragendes Engagement gewürdigt. Ausgewählte Lehrerinnen und Lehrer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erhalten die einmalige Gelegenheit, daran teilzunehmen und sich Inspiration und Anregungen für einen kreativen Unterricht zu holen. Mehr als 30 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger sind dazu vom 29. Juni bis 4. Juli 2025 mit rund 600 Nachwuchswissenschaftlerinnen und-wissenschaftlern aus der ganzen Welt und ca. 20 Lehrkräften am Bodensee zusammengekommen, um über aktuelle wissenschaftliche Fragen zu diskutieren, persönliche Kontakt zu knüpfen und sich gegenseitig zu inspirieren.
In diesem Jahr gehörte zu den ausgewählten Lehrkräften, die am „Teaching Spirit“ teilnehmen konnten, auch Nina Wegner vom Wilhelm-von-Siemens-Gymnasium Berlin, die in der Wettbewerbsrunde 2023 des „Deutschen Lehrkräftepreises – Unterricht innovativ“ in der Kategorie „Unterricht innovativ“ mit dem Sonderpreis „Umwelt und Nachhaltigkeit“ ausgezeichnet wurde (zusammen mit ihrer damaligen Kollegin Leonie Bücker). Nina Wegner ist Lehrerin für Chemie und Fachbereichsleiterin Naturwissenschaften und zudem als Fachseminarleiterin für das Fach Chemie in der Lehrkräftebildung tätig.
DLP: Frau Wegner, welche Eindrücke haben Sie von der Tagung in Lindau mitgebracht?
NW: Ich bin noch heute voller Dankbarkeit über die Möglichkeit, an der Tagung teilzunehmen und nachhaltig begeistert von dem „Spirit“ der Tagung.
Wir konnten inhaltlich-wissenschaftliche Einblicke in aktuelle Forschungsfragen und globale Herausforderungen der Wissenschaft in den Themenfeldern Klimawandel, planetare Grenzen und KI gewinnen und mit den Teilnehmenden der Tagung in einen Austausch auf Augenhöhe gehen – egal ob aus dem Lehramt oder aus der Wissenschaft.
Mir ist dabei insbesondere das gemeinsame Verständnis davon, dass komplexe Probleme interdisziplinär anzugehen sind, deutlich geworden – wie auch der Mut und der Pragmatismus, neue Lösungen umzusetzen. Die Denkweisen und Herangehensweisen von Nobelpreisträgerinnen und -preisträgern zu erfahren, ist dabei eine große und einmalige Inspiration für mich gewesen.

Auch zu sehen, welche entscheidende Rolle Lehrkräfte für die Nobelpreisträgerinnen und -preisträger gespielt haben, war eine echte Inspiration für mich.
DLP: Die Tagung war also gespickt von Highlights?
NW: Die Organisation war einfach beeindruckend und man spürte das Herzblut aller Beteiligten. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich meinen persönlichen Dank an Diana Hagg und ihr Team aussprechen. Besonders beeindruckt war ich neben den Panel Dicussions von Vorträgen wie dem von Stefan Hell sowie den Experimentierstationen von Prof. Schwarzer und Prof. Kremer und ihrer Arbeitsgruppe. Besonders in Erinnerung bleiben sicherlich die persönlich so inspirierenden Austauschmomente mit den anderen Teilnehmenden und den Nobelpreisträgerinnen und -preisträgern.
Zum Beispiel hatte ich Gelegenheit, beim gemeinsamen Mittagessen im Bayrischen Hof mit einem Laureaten, Kurt Wüthrich, ein angeregtes Gespräch über aktuelle Fragen von Schule zu führen und erfuhr, dass Schule und die Tätigkeit als Lehrer auch in seinem Werdegang eine besondere Bedeutung hatten. Das Gespräch war so angeregt, dass ich zusammen mit den anderen sechs Tischnachbarinnen und -nachbarn den anschließenden Programmpunkt fast verpasste und wir von den Organisatorinnen und Organisatoren noch schnell angeholt werden mussten.

Natürlich sind eine Bootsfahrt mit 600 Teilnehmenden auf der MS Sonnenkönigin über den Bodensee und die die Tagungsgesellschaft verabschiedende Gräfin Bettina Bernadotte am Ufer der Insel Mainau gleichermaßen unvergessliche Momente. Sie sehen, dass in der Tat ein Highlight das andere jagte…
DLP: Sie haben in Lindau am Sonderprogramm „Teaching Spirit“ teilgenommen. Wie war das organisiert?
NW: Bei einer geselligen Zusammenkunft am Anreisetag hatten alle teilnehmenden Lehrkräfte aus Deutschland und der Schweiz Gelegenheit, sich untereinander kennenzulernen und zu vernetzen. Am folgenden Tag nahmen wir am Hauptprogramm der Nobelpreisträgertagung teil, konnten der Panel Discussion zum Thema „pathways to sustainablility“ und dem wissenschaftlichen Vortrag von Stefan Hell zu seinem Nobelpreis folgen und in verschiedenen moderierten Gesprächen mit Dan Shechtman über Quasiperiodische Metalle und Kristallographie oder mit Avram Hershko über „Some lessons of my life in science“ sprechen.

Nach einem gemeinsamen Mittagsessen mit Laureaten folgte ein eigens für unser Programm organisierter Experimentierteil. Organisiert durch Prof. Schwarzer und Prof. Kremer und ihre Arbeitskreise hatten wir Gelegenheit, Unterrichtsideen und Anregungen zum Thema Nanomaterialien, Seltene Erdmetalle, Klimamodellierung und mRNA-Forschung zu erproben. Den Programmtag rundete ein Bayrischer Abend mit allen Tagungsteilnehmenden in der Inselhalle Lindau ab.
Der anschließende Tag galt vor allem der Diskussion, der Vernetzung und dem Austausch. Nach einer gemeinsamen Bootsfahrt zur Insel Mainau folgte die Abschlussdiskussion der Tagung und ein „Science Picnic“ auf bunten Picknickdecken bei strahlendem Sonnenschein.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie den Sponsoren bedanken, zu jeder Zeit konnten wir uns einfach nur wohlfühlen. Ich empfinde diese Einladung als sehr besondere und tiefe Wertschätzung von Lehrkräften.
DLP: Wie praxistauglich war das Treffen in Ihren Augen?
NW: Insbesondere die Lindau Mediathek ermöglicht es, aktuelle Forschungsbeispiele und sogar die auf dieser Tagung und den vorherigen Tagungen gehaltene Vorträge der Nobelpreisträgerinnen und -preisträger direkt in den Unterricht zu bringen. Ich bin mir sicher, dass insbesondere meine Jugend-forscht-AG davon inspiriert werden wird. Gespickt mit Anekdoten und persönlichen Einblicken von mir und aus meiner Tagungsteilnahme gelingt es sicher, die persönliche Bedeutsamkeit zu erhöhen, die Schülerinnen und Schüler stärker für MINT-Fragen zu motivieren. In Lindau werden auch verschiedene Materialien für den Unterricht aufbereitet und für Jedermann frei zugänglich bereitgestellt.
Darüber hinaus konnten wir Teilnehmende viele inspirierende Unterrichtsmaterialien und Experimente zu aktuellen Forschungsthemen im Bereich der Nanomaterialien (z.B. Nanopartikel im Lateral- Flow-Test) und zu modernen Materialien mit Seltenenerdmetallen (z.B. LED-Leichtstoffe, Afterglow-Effekte und Bioleaching) erproben. Diese Materialien werden ganz sicher in meinen Unterricht einfließen.
DLP: Ist in dem Programm auch „Grüne Chemie“, Ihr Thema aus dem Sonderpreis zur Sprache gekommen?
NW: Ja, das Thema Nachhaltigkeit war eines der Hauptthemen der Tagung. Mir sind insbesondere die Diskussionsbeiträge von Steven Chu (Stanford University, United States of America), Ben L. Feringa (University of Groningen, Netherlands), Michael Lerch (University of Groningen, Netherlands) und Sir M. Stanley Whittingham (Binghamton University (SUNY), United States of America) sehr in Erinnerung geblieben. In der Diskussion stellten Sie beispielsweise konkrete Konzepte und Maßnahmen grüner Chemie in ihren Forschungslaboren zur Erhöhung der Nachhaltigkeit vor. Mich hat es gefreut, dass dieses Thema nach wie vor aktuell in der Forschung ist und hoffentlich bleibt – mit steigender Tendenz.

DLP: Inwiefern war das Feedback der Lehrkräfte gefragt?
NW: Die Forschenden wollten sehr wissen, welchen Herausforderungen Lehrkräfte in einer Welt bewältigen, die sich so rasch ändert und von Jugendlichen als teils krisenhaft erlebt wird. Insbesondere Fragen danach, wie man Fachlichkeit und Interesse zusammenbringen kann – ohne alle zu verlieren, wurden häufiger gestellt.
DLP: Denken Sie, dass dieser Dialog mit Ihnen und den anderen Lehrkräften fortgesetzt wird?
NW: Ja, wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind zu einer kleinen Gemeinschaft gewachsen und ich stehe beispielsweise gerade für die Unterrichtsplanung für das kommenden Jahr mit einigen im direkten Austausch.
DLP: Wurde auch über den Mangel an MINT- und damit auch Chemie-Nachwuchskräften gesprochen und wie die Schule daran etwas ändern kann? Was braucht es aus Ihrer Sicht, um Schülerinnen und Schüler für MINT-Fächer und insbesondere für Chemie zu motivieren?
NW: Das war ein Thema. Insbesondere die Experimentierfreude der unterrichtenden Lehrkräfte wurde immer wieder hervorgehoben. Interessant dabei ist, dass die institutionellen Rahmenbedingungen über alle Bundesländer hinweg dafür manchmal sehr schwierig sind. In guten Gesprächen wurde deutlich, wie wichtig eine gute und tiefgründige Ausbildung angehender Lehrkräfte in diesem Bereich ist. Wir alle haben in unserem Berufsleben von Vorbildern und experimentell gut ausgebildeten Mentorinnen und Mentoren profitiert und können heute, mit experimentell ausgerichtetem Chemieunterricht, praktisch und forschungspraxisnah für das Fach Chemie begeistern. Wir hoffen, dass das auch für angehende Lehrkräfte der Fall sein wird und die fachspezifische Ausbildung nicht immer weiter reduziert wird.
DLP: Wird sich das auf Ihre Rolle als Lehrkraft auswirken?
Ich bin mir sicher, dass ich an der ein oder anderen Stelle die authentischen Forschungspersönlichkeiten, ihre Forschungsinhalte und Kontexte in den Unterricht bringen werden um so das Interesse zu steigern.
DLP: Gibt es etwas, was Schule von Wissenschaft lernen sollte?
NW: Mir sind besonderes die Offenheit für neue Denkrichtungen und Ansätze aufgefallen und die Räume für kreative Gedankengänge. Ein Zitat aus einem Gespräch mit Avram Hershko wird mich als Lehrerin in meiner Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern und der jüngeren Generation sicher noch oft begleiten: „Don‘t be afraid to go your own way – you don‘t always have to follow the mainstream.“ Gleichzeitig habe ich mitbekommen, wie sehr Wissenschaft in einem Wettbewerb um teils geringer werdende Gelder steht und wie gedankliche Freiheit längst keine Selbstverständlichkeit ist – auch in den westlichen Ländern wie den USA. Freie Diskurse anzuregen, erscheint mir jetzt viel mehr – nicht nur als Phrase, sondern als echte Aufgabe für meine Tätigkeit im System Schule.